Sommerferien in der Mittagspause – Kurzgeschichte von Salome Kern

Tina bremst scharf, reisst den Lenker nach links und holpert über den Randstein. Die Räder ihres Velos rollen noch, als sie schon vom Sattel springt. Unsanft kippt sie das Metallgestell gegen den Zaun und durchwühlt die braune Umhängetasche nach dem Schlüssel. Drei Mal greift Tina daneben, bis sie endlich den Schlüssel mit dem kitschigen Glitzer-Turnschuh in der Hand hält.

Sie steckt den Schlüssel ins Schloss und schiebt die dicken Locken aus dem Gesicht. Das Haar hat sich mit Schweiss vollgesogen. Egal wie lange Tina morgens vor dem Spiegel steht, spätestens zur Mittagspause sieht sie aus, als sei sie erst aus dem Bett gekrochen. Sie hat Glück, dass die Bauern sie nicht mit einem verlorengegangenen Schaf verwechseln, das seit Jahren keine anständige Schur mehr erhalten hat.

Sie wirft den Schlüssel zurück ins Hauptfach der Tasche, obwohl sie sich jedes Mal vornimmt, ihn in ein Seitenfach zu stecken, wo sie ihn leicht findet. Der Turnschuh ist ein Geschenk von Lukas, ihrem Ex-Freund, das sie längst entsorgen sollte, aber der Schuh erinnert sie an die Zeit nach dem Gymnasium. Das Zwischenjahr, Monate des Entdeckens. Zu zweit sind sie mit dem Zug durch Europa gefahren. Rauschende Nächte in Barcelona, lehrreiche Touren durch Sofia und pflichtenloses Gammeln am Strand in Italien. „Keine Termine und einen sitzen“, hat Lukas gesagt und ihr zu geprostet. Damals haben ihr alle geraten, sie solle die Zeit des süssen Nichtstuns geniessen. Tina hat nie ganz verstanden, wieso die Menschen ihr das mit einer solchen Erschöpfung in der Stimme sagen.

Jetzt ist alles anders, jetzt verstand Tina. Seit letztem Herbst ist sie Praktikantin in einem Architekturbüro. Im Studium hat sie niemand vorgewarnt, das hauptsächlich Stress und Selbstzweifel bedeuten wird. Der Chef lässt keine Gelegenheit aus, um ihr zu zeigen, dass sie nicht mehr kann, als die Knöpfe der Kaffeemaschine zu bedienen.

Sie hat geglaubt, dass diese Definition von Praktikum eine Legende von verhätschelten Studenten ist. Doch die Realität straft sie nun Lügen.

Heute hat sie es im stickigen Büro nicht ausgehalten. Die Sonnenstrahlen haben sich durch die Ritzen der Storen gezwängt, sie umgarnt, bis Tina nachgegeben hat. Sie musste das Büro verlassen, und wenn es nur für die Mittagspause war.

Einmal Saffa-Insel und zurück. Mit dem Velo dauert das knappe elf Minuten vom Bellevue, wo sich unweit davon das Büro befindet. Meisterhaft dem Klischee entsprechend, sind die Architekten in einer Glashölle mit puristischem Interieur im zweiten Stock eines alten Jugendstil-Haus einquartiert.

Tina beugt ihr Kinn zur Brust und bläst einen feinen Luftstrahl in ihr Dekolleté. Im Graben zwischen den Brüsten haben sich kleine Schweisstropfen gebildet, das weisse Shirt unter der Latzhose ist bereits feucht. Sie legt die Hand auf den Stamm der Linde, die mitten in der Liegewiese in die Höhe wächst. Hier im Schatten am Ufer des Zürichsees ist der Sommer besser auszuhalten, als auf dem Bürostuhl vor dem Bildschirm.

Auf der Landwiese reiht sich Badetuch an Badetuch, so lückenlos als wäre es ein Ferientag im Hochsommer. Als Jugendliche hat sich Tina nie gefragt, wie die Menschen an einem hundsnormalen Wochentag Zeit finden, um hier im Gras zu fläzen und das erste Bier schon am Mittag öffnen. Sie ist ja eine von ihnen gewesen. Die Zeiger ihrer Armbanduhr erinnern Tina daran, dass sie keine mehr von ihnen ist. Sie gehört jetzt zur Gilde der Vollzeit-Arbeitstätigen.

Der Begriff Mittagspause ist irreführend, ist Tina überzeugt. Mit Pause hat dieses Zeit nichts gemein, richtig ist einzig, dass sie zur Mittagszeit stattfindet. Schnell aus dem Büro hetzen, sich im Coop hinter die anderen gestressten Angestellten reihen und das Sandwich auf dem Rückweg herunterdrücken.

Mittäglicher Essstress oder Ernährungshetze – das beschreibt die vermeintliche Pause weitausbesser. Wäre man aber in diesem Thema ehrlich, dann dürfen die Chefs die unbezahlten Überstunden auch nicht mehr als herausfordernde Weiterentwicklungsmöglichkeit verkaufen. Und die ganzen Berater dürfen nicht von Verschlankung der Struktur sprechen, sondern müssen die bösen Wörter wie Massenentlassung und Aktionärsinteresse in den Mund nehmen. Ehrliche Kommunikation in der Arbeitswelt, das wäre eine Revolution nach ihrem Geschmack.

Tina streift die Sandalen mit den goldbesetzten Riemen von den Füssen, am Fersen leuchtet eine rote Druckstelle. Mit jedem Schritt über dem warmen Asphalt fühlt sich Tina ein Stück leichter. Sie lächelt den Kindern zu, die laut kreischend Fangen spielen. Der Teer wirft Blasen in der Hitze und Tina kann nicht widerstehen. Die grünen Augen leuchten auf. Sie kniet auf den Boden, drückt den Daumen auf eine Blase, bis die schwarze Flüssigkeit mit einem Ploppen hervorbricht.

Früher hat Mutter immer geschimpft. Es sei unmöglich, alle klebrigen Flecken wieder aus dem Stoff der Jeans zu waschen. Heute bleibt diese Aufgabe an Tina hängen. Ihr Chef hat wohl auch keine Freunde, wenn sie am Nachmittag mit schwarzen Klecksen auf den Knien ins Kundenmeeting stolpern würde.

Tina lässt die Blasen Blasen sein und schlendert über die Brücke, die die Landiwiese mit der Saffa-Insel verbindet, wie ein Regenbogen, an dessen Ende ein Schatz wartet. Der Geruch des Seewassers steigt in ihre Nase, Tina beschleunigt ihren Schritt.

Die Saffa-Insel ist ein kleines Paradies in Zürich. Winzig, aber mit einem Berg- und Seepanorama, dass Tina jedes Mal neu ins Staunen versetzt. Kaum jemand weiss, dass der Name 1958 wegen der zweiten schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit entstanden ist. Die Frauen damals wollten die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung des weiblichen Geschlechts hervorheben. Tina seufzt, sie sieht ihre Bedeutung in der Arbeitswelt noch nicht. Kaum ins Arbeitsleben gestartet, hat sie schon genug davon.

Auf der runden Wiese tummelt sich halb Zürich. Eltern sitzen mit ihren Neugeborenen im Schatten der Trauerweise, eine Gruppe Jugendlicher grillt Würste und aus drei Lautsprechern dröhnt Musik. Jamaikanischer Reggae aus dem Ghettoblaster, aggressiver Techno aus einer überdimensionierten Box und ein kitschiger EDM-Track säuselt aus dem Bluetooth-Lautsprecher. Die Klänge des jungen Mannes, der am Ufer sitzt und an den Saiten seiner Gitarre zupft, gehen in der Kakophonie unter.

Tina setzt sich im Schneidersitz ins Gras. Am anderen Ende des Sees ragen die Berge mit ihren verschneiten Spitzen in den blauen Himmel, keine Wolke stört die Sicht. Einatmen und ausatmen. Eine Entenmutter mit zwei flauschigen Babys schwimmt unter der Brücke durch. In gleichmässigen Bewegungen paddeln sie mit den schwimmhautbesetzten Füssen durch das klare Wasser. Sie hinterlassen kleine Wellen, die das Sonnenlicht auffangen und in einem wilden Glitzern zurück in die Welt werfen.

Verführerisch lockt das kühle Nass. Tina öffnet die Knöpfe ihrer Hose, ein schneller Blick nach links und rechts, und sie streift die Jeans über die Hüfte. An einen Bikini hat sie heute Morgen nicht gedacht, aber da hat sie auch noch nicht gewusst, wie nervenaufreibend dieser Montag werden würde. Tina ignoriert den Zustand ihrer Unterhose, die sie vor einer gefühlten Ewigkeit gekauft hat, und hofft, die Menschen, um sie herum, taten – aus Höflichkeit – dasselbe.

Normalerweise braucht Tina eine lange Angewöhnungszeit, bis sie bis zum Hals im Wasser steht. Ein Fuss nach dem anderen, langsam, langsam. Doch heute treibt sie der Gedanke an den ausgefransten Saum und die hässlichen Löcher in ihrer Unterhose an. Nicht jeder in Zürich muss wissen, dass sie zwar schicke Blusen besass, nicht aber eine einzige anständige Unterhose.

Das kühle Wasser umspielt ihre hellen Beine und sofort bildet sich Gänsehaut auf den Oberschenkeln. Das heisse Wetter lässt vergessen, das erst Frühling ist. Tina holt tief Luft, streckt ihre Arme über den Kopf, Handflächen aufeinandergepresst und taucht ab. Auf dem Grund des Sees tanzen die Reflexionen der Sonne ein Lichterballett. Mit kräftigen Stössen gleitet sie durchs Wasser, Luftblasen blubbern aus den Nasenlöchern zur Oberfläche.

„Unterwasser-Dampflokomotive“, denkt Tina. Sie drückt ihre Beine zusammen, die Füsse weit auseinandergespreizt und schwebt wie eine Meerjungfrau in den Wellen. Doch die fehlenden Kiemen machen sich bemerkbar, prustend schiesst Tina aus dem Wasser und schnappt nach Luft. Vor ihr schaukelt ein Boot ruhig hin und her.

Tina jauchzt auf, taucht ab und schlägt einen Purzelbaum nach dem anderen, bis ihr erneut die Luft ausgeht.

Eine Möwe krächzt, schreiende Kinderstimmen und der wummernde Bass aus der Techno-Box. Tina legt sich auf den Rücken, eine sanfte Welle erfasst sie und treibt sie weiter. Die Füsse paddeln nur so viel, dass sie die Balance nicht verliert.

Sommerferien.

Warme Luft, leichte Herzen.

Da schwappt eine Welle über ihr Gesicht, das Wasser läuft in die Nase, tropft weit hinten im Rachen die Kehle herunter und ein heftiger Hustenreiz überrollt Tina. Die Ferien sind fertig, meinen auch die Zeiger ihrer Uhr, als hätte der Chef die Welle persönlich vorbeigeschickt, um sie an ihre Pflichten zu erinnern. Doch ausnahmsweise stresst sie der Gedanke an den Mann mit der runden Brille und den sorgsam polierten Lacklederschuhen nicht.

Mit gleichmässigen Stössen schwimmt sie zurück ans Ufer, steckt den Kopf ein letztes Mal ins Wasser und schüttelt die nassen Locken wie ein Hund nach dem Bad. Eine ältere Frau quiekt erschrocken auf und droht mir mit erhobenem Zeigefinger. Tina lacht und die Frau zwinkert ihr zu.

Tina stellt sich mit ausgebreiteten Armen in die Sonne, um die letzten Tropfen des Seewassers zu trocknen.

„Vielleicht ist die Mittagspause ja doch richtig benannt. Ich habe sie bisher nur falsch befüllt“, denkt Tina, packt die Tasche und geht beschwingt zurück zu ihrem Velo.

Autorin Salome Kern – (salome-kern.ch) ist selbständige Journalistin und Texterin mit einem Flair für besondere Geschichten.

Titelbild: Salome Kern auf der Landwiese.